Wir alle kennen den Effekt: Im Radio oder in einem Café läuft ein bestimmtes Lied und die Melodie weckt in uns unwillkürlich Erinnerungen. Musik kann uns sogar in eine längst vergangene Situation zurückversetzen. Solche sogenannte Reminiszenz-Effekte, die Erinnerungen über die Gefühlsebene aktivieren, sind ein Bereich, in dem Musik in der Therapie von Demenzkranken eingesetzt werden kann.
Bei vielen Ärzten herrscht immer noch das Vorurteil, dass Demenz nicht behandelbar sei. Richtig ist: Demenz ist zum heutigen Zeitpunkt nicht heilbar. Doch es gibt viele wirksame Verfahren, die das Erleben der Patienten deutlich verbessern und den Verlauf der Krankheit zumindest verzögern können. Zudem tritt Demenz häufig mit anderen psychischen Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Antriebsstörungen auf. Diese sind durchaus effektiv therapier- und teilweise auch vollständig heilbar.
Psychosoziale Interventionen
Neben der medikamentösen Therapie sind sogenannte psychosoziale Interventionen eine wesentliche Säule in der Behandlung von Demenzerkrankungen. Laut S3 Leitlinie Demenz, einer Therapierichtschnur, die von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) verfasst und 2016 überarbeitet wurde, gehören zu den wirksamen Therapien etwa Ergotherapie und kognitive Stimulation. Aber auch das Angehörigentraining und nicht zuletzt der Einsatz musiktherapeutischer Methoden sind Empfehlungen der Leitlinie. Der aktiven Musiktherapie bescheinigen die Experten günstige Effekte bei psychischen und Verhaltenssymptomen von an Demenz erkrankten Menschen, insbesondere bei Angst. Rezeptive Musiktherapie, zu der auch das Vorspielen von Musik mit biografischem Bezug zählt, wirkt sich positiv auf agitiertes (hyperaktives) und aggressives Verhalten aus.
Kommunikation durch Musik
Neben diesen Einschätzungen von Wissenschaftlern haben auch viele Pflegende gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Musik bei demenziell Erkrankten gemacht. Die Musik wirkt hierbei auf verschiedenen Ebenen: Zum einen schafft sie einen direkten emotionalen Zugang zu den Patienten. Und zwar sowohl beim Musikhören – es ist erstaunlich, welche Effekte man beobachten kann, wenn in der Pflege-WG Schlager aus der Kindheit und Jugend der Bewohner abgespielt werden – als auch beim Selbermachen! Denn Musik kann als auch als nonverbale Kommunikationsform fungieren. So kann sie helfen, die Aphasie von Demenzkranken und die damit einhergehenden Kommunikationsstörungen aufzufangen und auszugleichen. Durch Musik stellt sich für viele der Kontakt zu anderen viel leichter her als durch Sprache! Da Musiktherapie meist in der Gruppe stattfindet, können hierbei auch Gemeinschaft, Gemeinsamkeiten und Freundschaften gestärkt werden. Das verbessert vor allem die Lebensqualität der Erkrankten.
Der Rhythmus bei dem jeder mit muss
Zudem leiden viele Demenzpatienten unter einem gestörten Zeitempfinden und -erleben. Die Strukturen von Musik, Rhythmik, Wiederholungen, Tempowechsel, klare Anfänge und Enden können es diesen Patienten ermöglichen, Zeit wieder wahrzunehmen und emotional zu erschließen. Das Erlernen eines neuen Instruments und das Ausprobieren verschiedener Techniken – sei es mit Rhythmus- oder Melodieinstrumenten – können für demenziell Erkrankte bedeutende Erfolgserlebnisse in einem von fortschreitendem Fähigkeitsverlust geprägten Alltag darstellen.
Wichtig bei alldem: Der Spaß, nicht die musikalische Perfektion stehen im Vordergrund! Es gibt kein richtig oder falsch. Dennoch müssen die einzelnen Gruppenmitglieder aufeinander achten, damit gemeinsames Musizieren möglich ist. Dies fördert Aufmerksamkeit auf sich selbst und andere und hilft, die sozialen Kompetenzen zu stabilisieren.
Entspannen durch hören und spüren
Neben der aktiven und der rezeptiven Musiktherapie gibt es noch eine dritte Form, mit der bei Patienten mit kognitiven Einschränkungen gute Erfahrungen gemacht wurden. Gemeint ist die vibroakustische Tontherapie. Bei dieser lassen sich Töne als Vibrationen im ganzen Körper erleben, etwa, indem man Klangschlafen auf dem Körper einer Person sanft zum Klingen bringt. Das Zusammenspiel von sensorischer und akustischer Stimulation stärkt die Selbst- und Körperwahrnehmung und sorgt für Entspannung. Besonders bei Patienten, die zu Ängstlichkeit, Hyperaktivität oder Aggression neigen, zeigt dieses Verfahren gute Wirkung.
Musik im Alltag
Natürlich gibt es ausgebildete Musiktherapeuten, die mit dem notwendigen Know-How, Equipment und einer gehörigen Portion Musikalität Angebote für Gruppen- und Einzeltherapien bereitstellen. Doch auch pflegende Angehörige können zuhause die Kraft der Musik nutzen. Am einfachsten ist es sicherlich, den Pflegebedürftigen Musik aus ihrer Jugend vorzuspielen. Auf YouTube und Co. finden sich eine große Anzahl von Schlagern und anderen Songs aus vergangenen Zeiten. Umso besser, wenn Sie den Musikgeschmack der Angehörigen kennen. So vermeiden Sie Fettnäpfchen und Ärger bei der „falschen“ Musik. Auch gemeinsames Singen und Musizieren mit einfachen Rhythmusinstrumenten lässt sich zuhause verwirklichen. Und auch bei sonstigen Beschäftigungen sollte man die Musikalität nicht vergessen: Wissenschaftler haben etwa gezeigt, dass beim Vorlesen das Gehirn dann besser durchblutet wird, wenn eine Geschichte mit deutlicher Betonung, unterschiedlichen Stimmhöhen und Rhythmuswechseln dargeboten wird.